“Grenzen der Zertifizierung
Bilanz und Ausblick
Von Carolin Callenius und
Francisco Mari
Explosionsartig erleben wir, wie immer mehr Nachhaltigkeits-Siegel Teil unseres Alltags werden. Von Bio, Fair Trade, den Runden Tischen, diversen Biospritplaketten bis zu Pro Planet und MSC (Marine Stewardship Council) hinter den Begriff Nachhaltigkeit verbergen sich die unterschiedlichsten Ziele, Kriterien, Systeme und Akteure. Allen gemein ist, dass sie bei den Importen von Agrarprodukten ansetzen. Diese sollen – je nach selbst gesetztem Zielunterschiedlich – aus einer Produktion kommen, die auf Raubbau am Regenwald verzichtet, in der keine Kinder arbeiten müssen, die Arbeiter gerecht behandelt werden, besonders wenig Treibhausgase verursacht oder/und die Artenvielfalt geschützt wird. Zu Recht wird kritisiert, dass dieses Schildermeer nicht mehr überschaubar ist. Es ist auch zunehmend unklar, welchem Siegel man Glauben schenken kann; da sich bei den meisten Siegeln höchstens eine Hand voll Experten noch auskennen.
In den Expertenzirkeln wird eifrig diskutiert, wie man diese Siegel noch weiter verbessern kann, wie man sie zusammenfassen kann und in ihrer Reichweite umfassender machen könnte und wie unabhängig eine Kontrolle der Zertifizierung sein muss. Zeitgleich wachsen aber auch die Zweifel, ob angesichts der immensen globalen Probleme diese kleinen Reformen am Agrarhandel ausreichen. Reicht das Plus für Menschen und Umwelt im Süden aus, um die Nachhaltigkeitsziele von Umwelt und Entwicklung zu erreichen? Oder dient nicht gar das Ganze nur als Beruhigungspille gegen das schlechte Gewissen? Denn der übermäßige und wachsende Konsum – auch von besiegelten Produkten – hat Folgen für die Menschen und die Umwelt im Süden.
Es besteht kein Zweifel, dass einzelne Produkte − inklusive ihrer Herstellungsprozesse und Folgewirkungen − durch eine Zertifizierung verbessert werden können. Wir aber wollen in diesem Artikel ein paar Fragen aus entwicklungspolitischer Perspektive aufwerfen, die die Grenzen des Instruments thematisieren, und welche Probleme wir wahrnehmen, die mittels der Zertifizierung selbst nicht behoben werden können:
• Ist eine exportorientierte Landwirtschaft oder Landnutzung mit zertifizierten Produkten grundsätzlich ein besserer Entwicklungsweg für die Länder des Südens als die nichtzertifizierten Exporte?
• Wer profitiert von der Zertifizierung und wer hat das Nachsehen?
• Welche ökologischen oder »fairen« Grenzen hat das Instrument der Zertifizierung?
Alle drei Fragen werden von vielen Bauernverbänden und Nichtregierungsorganisationen im Süden zunehmend kontrovers diskutiert.
Exporte von Rohstoffen als richtiger Entwicklungsweg?
Zunächst will die Zertifizierung nichts weiter, als bestehende Agrarhandelsströme qualitativ verbessern. Dabei geht es immer um unsere Ansprüche als KonsumentInnen im Norden. Egal ob für Biosprit, Schokolade, Tropenholz, Palmöl oder Shrimps, gleichgültig ob öko oder fair oder beides – die Standards werden in den Industrieländern gesetzt. Für die lokalen Märkte im Süden spielen diese Zertifizierungen, ja meist auch die Produkte selber, keine Rolle. Keine Verbraucherin in Costa Rica fragt nach öko-fairen Bananen oder in Dakar nach einer MSC-Sardine. Konsequenterweise heißt das, dass aus Sicht der KonsumentInnen im Süden niemand Zertifizierungen oder private Standards braucht.
In den Ländern selbst aber beobachten wir, dass diese Nachfrage häufig zusätzlich erfolgt; während gleichzeitig die natürlichen Ressourcen immer knapper werden. Während also einerseits die durchschnittlichen Ackerflächen pro Betrieb immer kleiner werden, beansprucht der Exportanbau immer größere Flächen und greift meist auf die besten Böden und Wasserressourcen zurück. Diese Knappheit an Land, Wasser, Biodiversität, etc. führt dazu, dass die Eigenversorgung mit Grundnahrungsmitteln in den letzten Jahren drastisch abnimmt. Viele Entwicklungsländer sind zunehmend von Nahrungsmittelimporten abhängig.
Eine Entwicklungsstrategie durch »Rohstoff- oder Agrarexporte« wurde in den letzten Jahrzehnten als der Königsweg propagiert. Sie versprach die gesteigerten Kostenvorteile in der Landwirtschaft und hohe Rohstoffpreise auszunutzen, um mit den Einnahmen Infrastruktur, Energie, Gesundheit und Bildung zu finanzieren. Niedrige Weltmarktpreise für Nahrungsmittel Nahrungsmittel förderten die Illusion man könne mit diesen Einnahmen auch die Ernährung der Bevölkerung sichern. Doch seit 2008 ist dieser Traum ausgeträumt. Die hohen und sehr stark schwankenden Nahrungsmittel- und Rohstoffpreise führten den Ländern ihre Abhängigkeit vom Weltmarkt und die Unsicherheit der Budgetplanung vor Augen. Weder die Armen in den Städten und noch weniger die große- Mehrheit der Landbevölkerung haben davon profitiert.
Im Hinblick auf die Bekämpfung von Armut und Hunger muss hinterfragt werden, ob eine Export-Expansion, auch wenn sie als nachhaltig zertifiziert ist, im Sinne einer ernährungssichernden, landwirtschaftlichen Produktion für die arme ländliche Bevölkerung in den Ländern des Südens zu wünschen und zu unterstützen ist. Letztendlich dient auch sie nur dazu, unsere Versorgung im Norden mit natürlichen Ressourcen abzusichern. Den meisten Zertifizierungen, wie FSC (Forest Stewardship Council) und den Runden Tischen fehlt bereits im Ansatz das Ziel der Armuts- und Hungerbekämpfung. Sie gehen in ihrem Anspruch oft nicht über eine Verringerung der schlimmsten (ökologischen und teilweise sozialen) Probleme hinaus. Auch die wachsende Ernährungsunsicherheit kann durch Zertifizierung nicht erfasst und nicht vermieden werden.
Sind denn die Mengen an zertifizierter Ware überhaupt nachhaltig verfügbar?
Es sind die gleichen Äcker, die gleichen Flüsse und Wälder, die, bisher von bäuerlichen Familien genutzt werden, nun aber von den Investoren in nachhaltige Produktion benötigt werden. Der Zugriff auf das Ackerland aber führt zu neuen ernst zu nehmenden Konkurrenzen, die in Folge auch zu Nahrungsmittelengpässen auf den lokalen Märkten führen können. Nämlich dann, wenn Menschen der Zugang zu den natürlichen Ressourcen geraubt wird oder wenn auf den lokalen Märkten nicht mehr ausreichend Lebensmittel zur Verfügung stehen oder nur zu Preisen, die für die Ärmsten schlicht nicht mehr bezahlbar sind. Zwar lässt sich überprüfen, ob bei der Anlage einer zertifizierten Plantage das Ackerland legal erworben wurde, ob Landkonflikte anhängig sind, oder Regenwald zerstört wurde und damit ausschließen, dass Menschen von ihrem Acker vertrieben, oder ohne ihre Einwilligung umgesiedelt wurden. Doch wird die wachsende Nachfrage nach Agrarimporten aus dem Süden – mit oder ohne Zertifizierung – zu weiteren indirekten Folgen führen. Denn die ursprünglichen Nutzer des Landes werden nun an anderen Orten beginnen zu produzieren, wo sie unter Umständen einen Raubbau an Primärwäldern vornehmen. Im Zuge des Wettlaufs um die natürlichen Ressourcen, wie Land und Wasser haben die besonders Benachteiligten oft das Nachsehen. Nomaden, Hirten, Fischer und Indigene werden in ihren Nutzungsrechten eingeschränkt und sind dann auch Opfer von »politisch korrekten « und zertifizierten Investitionen von landbesitzenden Kleinbauern.
»Die Dosis macht das Gift.« Dies wird in den Diskussionen um Agrotreibstoffe immer wieder deutlich: Denn ob mit oder ohne Zertifizierung, es wird nicht gelingen die steigende Nachfrage nach Agrarprodukten auf nachhaltige Weise zu befriedigen. Bei immer knapper werdenden natürlichen Ressourcen sind vielerorts die Grenzen für eine Produktionserweiterung bereits erreicht oder gar überschritten. Insbesondere dann, wenn immer mehr Energie und Grundstoffe aus Biomasse, Rohstoffe auf Erdölbasis ersetzen sollen. Bioethanol und Biodiesel benötigen jetzt schon zwei Prozent der weltweit verfügbaren Ackerflächen. Die neuen Hoffnungsträger einer »Grünen Technologie« aus nachwachsenden Rohstoffen, wie Biokerosin, Biokunststoff, Baufasern und Schmierstoffe werden diesen Trend fortsetzen.
Partizipation für wen?
Nachhaltigkeitsstandards funktionieren in gewisser Weise wie alle privatwirtschaftlichen Standards, die von Handels- und Industrieverbänden angewendet werden (beispielsweise Standards des Codex Alimentarius, der für die Einhaltung von Hygienestandards sorgt und private Standardnormen wie EUROGAP). Sie führen zu einer dem Agrobusiness genehmen Uniformität der Produkte, der sich alle Produzenten unterwerfen müssen. Da der Vormarsch der Supermärkte auch im Süden voranschreitet, verlieren Kleinproduzenten ihre lokalen Märkte und nur wenige, die in die Standarderfüllung der meist internationalen Handelsketten investieren können, beliefern sie. Alle Anderen müssen auch noch zusehen, wie Billigreste die den Standard nicht erfüllen, sie auch noch von den Straßenmärkten der Armen vertreiben.
Kleinproduzenten können sich die Kosten, die mit der Zertifizierung verbunden sind, oft nicht leisten. Aber auch Landwirte mittelgroßer Betriebe gehen ein hohes Risiko ein. Denn je höher ihre Investition, desto größer die Gefahr durch Markteinbrüche bei nur geringfügigen Nichtstandarderfüllungen. Kurzfristige Erfolgs- und Gewinnbestrebungen aller Beteiligten lassen auch im Geschäft mit zertifizierten Produkten keine Zeit, um die Umwelt der Produzenten langsam und nachhaltig an neue Markterfordernisse anzupassen. Dieses Anliegen wird allein von den Standards des fairen Handels aufgegriffen, die langfristig mit Beratung die Partner unterstützen und die Produzenten an eine soziale, manchmal auch an eine ökologische, Nachhaltigkeit heranführen.
Die Produktionsstrukturen sind mit Ausnahme des fairen Handels meist nicht berücksichtigt. Es werden immer nur das Produkt und die Herstellungsweise zertifiziert; aber nicht ob es von mechanisierten Großbetrieben hergestellt wurde oder in kleinen Strukturen vor Ort. Dagegen wehrt sich beispielsweise die brasilianische Landlosen- Organisation MST. Diese meint, dass Nachhaltigkeit unbedingt die Verteilung der Ressourcen beinhalten müsse, denn sonst gefährde der Anbau in immer größer werdenden Strukturen die Lebensgrundlage der Menschen.
Zertifizierung – nur ein grüner Anstrich?
Seit dem Beginn von Zertifizierungen wird heftig darüber gestritten, was denn unter Nachhaltigkeit verstanden wird. Während die Einen jeden Schritt, den die Industrie sich bewegt, als einen Gewinn ansehen (Statt der Nische soll der Mainstream erobert werden), kritisieren die Anderen, dass dies nur ein grünes Deckmäntelchen sei. Für letztere steht außer Frage, dass man gentechnisch verändertes Soja nicht als »verantwortungsvoll« zertifizieren kann; dass auch Monokulturen, die sich über zehntausende von Hektar erstrecken und große Mengen Pflanzenschutzmittel einsetzen, alles andere als nachhaltig sind. Viele Fragen sind offen: Ist nicht auch eine öko-faire Shrimps-Mast ein Widerspruch in sich? Kann es angesichts der überfischten Meere eine Öko-Aquakultur geben? Schützen Biotreibstoffe zwar das Klima, erzeugen sie aber gleichzeitig Probleme im Bereich des Erhalts von Umwelt und Menschenrechtschutz? Nachhaltigkeitszertifizierungen sind immer nur partiell. Das Wissen um die komplexen Zusammenhänge von Sozial- und Ökosystemen ist begrenzt, und die Wirkungen, die massive Eingriffe haben, sind in Öko- oder Sozialstandards nicht wirklich erfassbar und vorherzusehen.
Was wäre ein Ausweg?
Grundsätzlich muss sich jedes Land, jede Region fragen, in welchem Ausmaß Infrastruktur, Land, Wasser, Energie und Arbeitskraft in die Exportproduktion gehen soll, oder eben in die eigene Nahrungsversorgung und verarbeitende Kleinindustrien eingebracht werden. Den Landwirten, die die Mehrzahl der Hungernden ausmachen, wäre mehr gedient, wenn (…).”
(Quelle: Forum Umwelt & Entwicklung.)